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Warum wir einen neuen Blick auf «Neue Musik» brauchen – und warum sie gerade heute wichtiger ist denn je.

Neue Musik

Fangen wir mal ganz unmusikalisch an: mit einem Missverständnis. Wer im Internet nach «Neue Musik» sucht, bekommt Vorschläge für frische Pop-Veröffentlichungen, angesagte Spotify-Playlists oder TikTok-Sounds, die gerade viral gehen. Dabei hat «Neue Musik» rein gar nichts mit dem zu tun, was man heute gemeinhin unter «neuer Musik» versteht. Jedenfalls nicht für Leute wie mich. Oder dich, wenn du das hier liest.

Der Begriff «Neue Musik» stammt aus der Nachkriegszeit. Damals war klar: Musik darf nie wieder Massen verführen, nie wieder blind Gefühle ansprechen, nie wieder als Soundtrack für autoritäre Träume herhalten. Stattdessen: Denken! Hören! Verantwortung! Das klingt heute vielleicht etwas pathetisch, aber es hatte seinen Grund. Neue Musik war ein Befreiungsschlag. Und ein Bruch mit allem, was vorher war.

Aber jetzt? Jetzt ist alles gleichzeitig. Neue Musik klingt nicht mehr nur nach Darmstadt oder Donaueschingen, sondern auch nach Noise, nach improvisierter Stille, nach Performances mit Haushaltsgegenständen oder einer Tuba, die mit einem Föhn bespielt wird. Neue Musik ist inzwischen divers, wild, widersprüchlich, queer, technoid, hybrid. Und das ist gut so.

Nur das mit der GEMA ist nach wie vor alt. Sehr alt. Da gibt’s immer noch die Trennung zwischen „U“ (Unterhaltung) und „E“ (Ernst). Und ja, viele von uns fordern zu Recht eine Reform. Aber – und das ist mir wichtig –: Es geht nicht darum, die ernste Musik abzuschaffen. Im Gegenteil. Wir brauchen eine Musik, die gerade nicht nach Markt, Masse und Mausklicks funktioniert. Eine Musik, die zweifelt, nervt, provoziert. Die sich Zeit nimmt. Die nicht sofort „funktioniert“. Kunstmusik eben.

Seit vielen Jahren setze ich mich mit aller Vehemenz für die Sichtbarkeit dieser Kunstform ein – zunächst mit dem Festival Nachhall¹ in Berlin und heute mit der Werkstatt für Neue Musik – ACHTELTON². Beide Formate sind Ausdruck eines klaren Bekenntnisses: Neue Musik gehört in die Öffentlichkeit. Nicht ins Elfenbeintürmchen, sondern auf Bühnen, in Dörfer, in Städte, in die Gegenwart.

Denn Kunst ist kein Algorithmus. Und Kunstmusik darf – ja: muss! – jenseits der Verwertungslogik funktionieren. Kein Wachstum, keine Abozahlen, keine Sponsorenfreundlichkeit. Sondern: Kunst, die etwas wagt. Weil sie muss. Weil sie will. Weil sie nicht anders kann.

Und was ist jetzt mit dem Begriff?

Im Englischen gibt es «Neue Musik» als festen Begriff nicht. Da heißt es «contemporary classical music» oder «classical music». Klingt eleganter, aber: interessiert dort auch kaum jemanden. Außer ein paar Nerds, Akademiker*innen und Spezialsendungen auf College-Radio. Und bei uns? Da hängen wir immer noch am Etikett «Neue Musik», obwohl das Kind, längst aus den Windeln, seltsam, sperrig und wunderbar eigensinnig geworden ist.
Also: abschaffen? Umdeuten? Neu erfinden? Vielleicht. Oder einfach mit stolz geschwellter Brust sagen: Ja, das ist NEU. Und das ist MUSIK. Und wenn du das komisch findest – umso besser.

Was mich zum Schluss bringt:

Vielleicht ist es egal, wie wir das Kind nennen. Wichtig ist, dass es laufen lernt. Und sich auch mal weh tun darf. Neue Musik ist kein Genre. Sie ist eine Haltung. Ein offenes Fragen. Ein radikales Lauschen. Und manchmal ein Tritt vors Schienbein des Gewohnten.

Also ja: Neue Musik nervt. Und das ist gut so.

Fußnoten

Fußnoten

  1. Gefördert durch das Kulturamt Berlin-Kreuzberg
  2. Gefördert durch die Stiftung Niedersachsen, den Lüneburgischen Landschaftsverband, das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, die Niedersächsische Sparkassenstiftung sowie die Sparkassenstiftung Lüchow-Dannenberg und die Stadt Hitzacker (Elbe).
Michael Maria Ziffels
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