Kassandra, die trojanische Seherin, ist eine der eindringlichsten Figuren der griechischen Mythologie. Sie besitzt die Gabe, in die Zukunft zu blicken. Doch weil sie sich weigert, dem Gott Apollon zu gehören, verflucht er sie: Ihre Prophezeiungen bleiben wahr – aber niemand glaubt ihr.
Sie warnt vor dem hölzernen Pferd, vor dem Untergang Trojas, vor ihrem eigenen Tod. Doch ihre Stimme bleibt machtlos. Spott ist ihre Antwort, Ignoranz ihr Schicksal. Und so geschieht, was sie vorhergesehen hat – nicht, weil sie irrte, sondern weil niemand bereit war, hinzuhören.
Der Fluch wirkt bis heute
Gestern war Erdüberlastungstag. Der Tag, an dem die Menschheit alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht hat, die der Planet innerhalb eines Jahres regenerieren kann.
Seit diesem Datum leben wir ökologisch auf Pump – mit Folgen, die sich längst nicht mehr in abstrakten Zukunftsszenarien verbergen, sondern in Flut, Feuer, Dürre, Artensterben und Migrationsbewegungen bereits real sind.
Und doch: Die Reaktion bleibt dieselbe wie damals in Troja.
Verharmlosung. Verzögerung. Wirtschaft vor Klima. Wachstum vor Leben.
Die Wissenschaft ruft, warnt, modelliert, analysiert – und wird wie Kassandra überhört, entwertet, ignoriert.
Wir haben gelernt, alles zu wissen – und nichts zu tun
Der Club of Rome, der IPCC, zahllose Forscherinnen und Aktivistinnen: Sie alle erinnern an Kassandra. Sie besitzen keine mythologische Gabe, sondern empirische Evidenz. Doch auch sie müssen erleben, wie Politik, Medien und Gesellschaft ihre Warnungen nicht ernst nehmen – oder nur so weit, wie sie bequem bleiben.
Die Tragik: Die Katastrophe ist längst keine Zukunft mehr. Sie ist Gegenwart. Aber der Fluch wirkt fort – nicht durch einen Gott, sondern durch Interessen, Ideologien und systemische Trägheit.
Was tun?
Der Mythos lehrt: Wahrheit allein genügt nicht.
Kassandra hatte recht – und verlor alles.
Der entscheidende Unterschied liegt heute nicht im Wissen, sondern in der Verantwortung.
Wir wissen, was geschieht. Wir wissen, was zu tun wäre.
Wir haben längst verstanden, dass die „gängige Mär“ – etwa von unbegrenztem Wachstum, von ewiger Wettbewerbsfähigkeit, von technischer Lösung aller Probleme – kein Märchen ist, sondern eine Lüge.
Die Frage ist: Wann beginnen wir, Kassandra zuzuhören – nicht nur mit dem Kopf, sondern mit Konsequenz?