wanderling wondering

Das selbstorganisierte Zusammenspiel von unzähligen Teilen im harmonischen Ganzen einer Zelle stellt jede Sinfonie weit in den Schatten. Oder um es anders zu sagen: Dass Menschen Musik schaffen und wahrnehmen können, ist ein Spiegel der Tatsache, dass sie selbst aus etwas bestehen, das der Musik ähnlich ist.

Ulrike Draesner liest aus DOGGERLAND II. Die gängige Mär

wanderling wondering

— Oper

Neues Werk von: Michael Maria Ziffels

Texte: Ulrike Draesner

Projekt

Projektbeschreibung: «wanderling wondering»

Veranstalter ist der Verein ART14 e.V. in enger Kooperation mit Zukunfstmusik Wendland e.V.. Die künstlerische Leitung liegt bei Michael Maria Ziffels.

Das selbstorganisierte Zusammenspiel unzähliger Teile im harmonischen Ganzen einer Zelle stellt jede Sinfonie weit in den Schatten. Doch vielleicht ist es genau diese innere Ordnung, die es dem Menschen ermöglicht, Musik zu erschaffen und zu erleben – als Spiegel seiner eigenen Struktur.

Aus dieser Idee entstand das Konzert «wanderling wondering» für Stimme, zwei Klaviere, Midi-Keyboards, Concertina und weiteren Instrumenten, das am 27.09.2025 in der großen Aula der Freien Schule Hitzacker aufgeführt wird. Im Zentrum stehen zwei Klaviere als pulsierende, interagierende Klangkörper, deren Spiel feine Verästelungen, rhythmische Verschiebungen und mikrotonale Nuancen entfaltet – ein akustisches Abbild biologischer Prozesse.

Das Konzert, das sich besonders an ein junges Publikum richtet, ist eine Annäherung an die Frage: Ist Musik eine Projektion unserer biologischen Existenz? Und wenn ja, welche Klänge entstehen, wenn wir die Grenzen zwischen Musik und Leben auflösen?

Teile
0 – Prolog

0. Die gängige Mär — Was geritten wird

(surprise: die anderen waren immer schon da)  Sprache I Prolog

Was ist eine Geschichte? Wer beginnt sie – und wann?

Im Zentrum der Ensemble Komposition wanderling wondering stehen Texte von Ulrike Draesner, entnommen dem zweiten Kapitel ihres Langdedichts Doggerland. Der Prolog trägt den Untertitel surprise: die anderen waren immer schon da und stellt das, was wir für bekannt, für selbstverständlich halten – die gängige Mär –, radikal in Frage.

gängige mär: woman am feuer (erde, herd) / verdreckt im schneidersitz schurz / lockerer blick während sie / rühren (stir) im topf (kopf)

Hier ist nichts klar getrennt: der Topf wird zum Kopf, das Rühren zu Gedankenarbeit, zum Denken in Bewegung. Der Prolog ist bereits Handlung – oder besser: eine Wiederaneignung dessen, was zu oft vergessen oder verdrängt wurde. Draesners Sprache reißt auf, spielt mit Brüchen, Mehrdeutigkeiten, Verunsicherungen. Sie legt die Sedimente unter der „gängigen Mär“ frei, in der Frauen an den Herd verbannt, ins Märchen verpackt, aus der Geschichte herausgeschrieben wurden.

wirklich: aufm arsch übern weg / geschleift dear pear gib was du / hast

Die Gewalt ist da – angedeutet, aber unüberhörbar. Gleichzeitig leuchtet Widerständigkeit auf: in der Sprachverfremdung, im Rhythmus, im „swing ding fall lall sing“. Sprache beginnt zu tanzen, zu stottern, sich selbst zu zerlegen und neu zu formen. Die Stimme wird vielstimmig. Die Mär bricht auf.

Michael Maria Ziffels hat sich bereits mehrfach mit Ulrike Draesners Texten auseinandergesetzt. Ihre Poesie ist für ihn kein bloßer Anlass zur Vertonung, sondern ein Resonanzraum – offen, experimentell, herausfordernd. In seiner Arbeit nutzt er eine Vielzahl kompositorischer Techniken: von der sensiblen Klangzeichnung über strukturelle Spiegelungen bis hin zu Sprach-Fragmentierungen und elektroakustischen Transformationen. Mal bleibt der Text hörbar, mal wird er in musikalische Gesten überführt, mal zerfällt er zu Lauten, Rhythmen, Impulsen.

wanderling wondering antwortet auf diese Sprachlandschaft mit Klängen: zersplittert, tastend, eruptiv. Das Ensemblestück folgt keinen traditionellen Erzählkurven, sondern versteht sich als klangliche Prologform – als Fortsetzung eines „wirklich“ in anderen Medien.

was ist denn / das: mähren? wo haben sie / die denn jetzt her?

Diese Fragen – offen, ironisch, forschend – tragen hinein in das Stück. Sie stellen sich dem Zuhörenden. Was tragen wir weiter? Welche Geschichten schleppen wir mit uns? Und wer hat eigentlich wem was erzählt?

1

1. ahva — Ströme der Bewegung

(gotisches Wort für Fluss, Wasser)

Wasser kennt keinen Stillstand. Es sucht sich seinen Weg, gräbt sich durch Stein, verbindet Orte und trennt sie zugleich. Wie die Strömung eines Flusses ist auch die Bewegung der Menschen: Wandern, aufbrechen, in alle Richtungen strömen.

Ein Tropfen fällt – ein Impuls entsteht. Ein Ton setzt sich in Bewegung. Wellen breiten sich aus, werden zu Stimmen, Schritten, Rhythmen. Ein Ensemble aus Körpern, Instrumenten und Stimmen folgt dem unsichtbaren Strom, mal gemeinsam, mal auseinanderdriftend.

Jede Bewegung hinterlässt Spuren, Klänge, Erinnerungen. Die Musiker*innen sind Tropfen im Fluss, formen den Strom, lassen ihn wachsen. Mal sanftes Gleiten, mal reißender Strudel – immer in Bewegung. 

ahva – ein Spiel aus Klang und Körper. Ein Wandern durch den Raum. Ein Fluss, der nie aufhört zu fließen.

2

2. wudu – Stimmen des Holzes

(altenglisch für forest, wood, tree)

Der Wald spricht. Seine Stimmen knarren in den Stämmen, rauschen in den Wipfeln, knistern unter unseren Füßen. Jeder Baum trägt Geschichten in seinen Jahresringen, gespeicherte Zeit, erkaltetes Licht. 

Das Holz lebt weiter – in Saiten, in Resonanz, in Klang. Das Klavier atmet durch sein Gehäuse aus gewachsenem Holz, die Concertina singt mit seinem Körper, das Innenklavier flüstert mit ihren Saiten. Hände berühren das geformte Holz, bringen es zum Klingen, wie der Wind die Äste bewegt. 

Wir wandern durch die Klänge wie durch den Wald – mal vorsichtig tastend, mal festen Schrittes. Der Boden gibt nach, der Klang trägt weiter. Jeder Ton eine Spur, ein Ast, der unter den Füßen bricht, ein Echo zwischen den Bäumen. 

wudu – der Wald klingt in uns.

3

3. galan — Lied von den Stimmen der Erde

(altenglisch für sing, cry)

Ein Laut vor dem Wort, ein Schrei vor dem Gesang. Stimmen, die sich wandeln, zwischen Mensch und Tier, zwischen Ruf und Echo. 

Die Sänger*in ist der Atem des Waldes, des Flusses, der wandernden Körper. Ihre Stimme steigt aus dem Schlamm, trägt Schlieren aus Sprache, ein Wispern, ein Kreischen, ein langer, ausgehauchter Ton. 

Die Instrumente antworten – Holz summt, Saiten zittern, der Klang stapft, wankt, rennt. Worte splittern, brechen auf, verbinden sich neu. 

wanderling wondering suchend, tastend, verloren im Modder, im dichten Wurzelwerk der Stimmen. 

Dann: baumriesengrün, ein Aufsteigen, ein Trecken, die Stimme spannt sich, wie Licht über den Himmel, wie Flügelschlag im Morgengrauen. 

stern zacke um zacke – der Klang steigt weiter, der Gesang vergeht nicht, sondern wird Wind.

Lied

wanderling wondering um
die waden boote (boots aus booty)
geschnürt wading gegen egel modder
(mud) den elchen nordwärts nach hat man
an gliedern dig-it schaufel schwiele schweiß
hockt (squatting) in grobem matsch (slush) stiebt
auseinander ghémōn (mensch, man)
wird es baumriesengrün
kurznacht
vogelvoll : treckt
stern zacke um zacke
der sonne zu

4

4. blandan – strömung, klang, körper

(altenglisch mit der Bedeutung, etwas so zu mischen, dass die einzelnen Bestandteile sich nicht mehr trennen lassen)

Nichts bleibt für sich. Alles mischt sich, löst sich auf, wird eins.

Wasser nimmt Holz mit sich, Stimme taucht in Klang, Worte verformen sich zu Lauten. Concertina summt wie Wind durch Blätter, Innenklavier tropft in Resonanzen, das Klavier schichtet Töne wie Schlamm am Ufer.

wanderling wondering  – nicht Wort, nicht Stimme, nicht Klang – alles zugleich.

wading gegen egel modder – Schritte in Sound, Sprache verschmiert zu Rhythmus, Atem reibt sich an Saiten.

matsch stiebt auseinander ghémōn – Tier, Mensch, Echo, Rufen, Verstummen.

Die Stimme löst sich im Ensemble auf, die Instrumente werden zu Stimmen, der Raum klingt mit. Alles fließt, schichtet sich übereinander, sickert durch, presst sich durch schmale Lücken, wirbelt auf.

Der Klang hält nicht inne, er wächst, strömt, verschiebt sich. Und dann – tief aus dem Mischklang – hebt sich etwas Neues. Eine fünfte Stimme, ein fünftes Element. Noch formt es sich, noch sucht es seinen Weg.

5

5. támah – wenn das licht weicht

(sanskrit für Dämmerung)

Etwas löst sich. Erst kaum spürbar, ein Ziehen in der Luft, ein leiser Verlust. Der Tag hält noch, aber seine Ränder fransen aus.

Unruhe breitet sich aus, ein Drängen, ein Wissen ohne Worte: Es kippt.

es regnet bis auf die knochen – eine Schwere setzt ein, erst von außen, dann von innen.

es presst zu boden – Widerstand zwecklos, der Körper gibt nach, wird weich, wird klein.

es rollt es jagt die wolken vor sich her – ein Aufbäumen, ein Rennen ohne Ziel.

Die Sinne schärfen sich im letzten Licht. Jede Bewegung wird dringlich, jede Berührung ein Echo. Augen suchen Halt, greifen nach Formen, die schon zerfließen.

es schneit es vereist – die Kälte kommt nicht plötzlich. Sie kriecht, tastet, setzt sich fest.

es treibt die schafe zu boden – Müdigkeit oder Ergebenheit? Der Moment, in dem Aufstehen sinnlos scheint.

Die Dämmerung nimmt, ohne zu fragen. Kein Warten, kein Zurück.

es ist von einer sekunde zur nächsten – vorbei.

es regnet bis auf die knochen es
presst zu boden es reißt die bäume aus
es rollt es jagt die wolken vor
sich her es stürmt aus süden
aus norden es schneit es vereist
die höhlen die hütten es treibt
die hunde herein es treibt die kühe
herein es treibt die schafe zu boden es
treibt die männer in die frauen
es wirft die kinder in die luft es frisst
den himmel es ist von einer
sekunde zur nächsten

vorbei

Michael Maria Ziffels
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.