Elon Musk träumt davon, Leben zu den Wüsten des Mars zu tragen. Leben in den Weltraum tragen möchte auch Michael Maria Ziffels, jedenfalls in seinem am Sonnabend in der St.-Johannis-Kirche in Hitzacker uraufgeführten Musiktheater «Distance 2123». Elon Musk Superrakete «Falcon Heavy» trug beim ersten Start ein E-Auto in die außerirdischen Weiten, an Bord von Ziffels «Arche ohne Noah» finden sich die Samen der irdischen Tiere, Pflanzen und der «klügsten und friedvollsten Männer». Die Crew besteht aus Personen, die im aktuellen Jargon des Guten «nicht-cis-männlich» genannt würden. Man betet ein «Mutterunser» — «die du bist aus Erden, gefeiert werde dein Ei und Same» – und widmet diese Andacht recht profan «den Künstler*innen, denen durch die Einsparungen im Kulturbetrieb seelischer Schaden zugefügt wurde». Wie heißt es mit Guillaume Paoli im Libretto: «Die Angst vor dem Weltuntergang ist ein Luxus für privilegierte Westler.» An Bord ist auch der außer Kontrolle geratene Supercomputer Alexa-Siri-Shiva (Letzteres der Name des hinduistischen Gottes der Schöpfung und Zerstörung). Man ist in den Weiten des Alls, «der selbsternannte Homo sapiens ist Geschichte», heißt es in einer Beschreibung des Stücks.
In der Kirche ins Paradies
Wie bei Elon Musk geht es um nicht weniger als die Rettung der Welt, vielleicht Hybris, auf jeden Fall etwas, für das einmal die Kirche zuständig war. Eine solche in ein Raumschiff zu verwandeln, sei schon immer sein Traum gewesen, sagte der in Hitzacker lebende Komponist im Künstlergespräch vor der Aufführung vor rund 80 Gästen, die das fünfte Konzert der von Ziffels gegründeten Reihe «ACHTELTON» war. Der Name jenes Raumschiffes, das wie Elon Musk angesichts des Weltuntergangs die Gattung Mensch zu retten aufbrach, weckst ähnlich irdische Reminiszenzen wie der Falcon-Tesla: «EU*Distance» lautet er. Durch ein Wurmloch – populärkulturelle Spuren wie dieser Begriff finden sich des Öfteren – finden Schiff und Crew die «schöne, neue Welt», das Paradies, aus dem die Menschheit sich vertrieben hat. Die Arie – bei aller Vorsicht kann das Sopransolo in diesem letzten der sieben Bilde von «Distance 2123» so genannt werden – ist Vertonung eines Gedichts von Bernd Marcel Gonner. Sophia Körber, einzige Solistin des Werks, in Glitzertop und Chiffon-Rock erst Verkörperung der durchgeknallten künstlichen Intelligenz Alexa-Siri-Shiva, später unter anderem Vorbeterin, wechselt noch einmal die Rolle und singt den Schluss mit einer bedrückenden Mischung aus intensiver Emotionalität und Klarheit. Sie führt den Bogen mit ihrem lichten Timbre elastisch, wechselt bruchlos zwischen quasireziativischen Stellen und kantabiler Melodik: «Wir verschwistern Maul und Herzen, weil die Haut uns heiß ist, wir entzünden Nebelkerzen, weil der Himmel flau ist». Getragen wird der Sopran der Sängerin, die auch an anderen Stellen solistische Glanzpunkte setzte, von einem von Achim Oerter flexibel gestalteten E-Piano.
Zwischenwesen des Klangs
Eingebettet ist dieser sopranistische Solopart in die Live-Elektronik und in einem Chor, er steigt wie Protuberanzen der Sonne aus beider musikalischen Texturen auf, fällt wieder in sie zurück. Der erste Auftritt des Chores ist eine von Zwischenwesen, gerade aus dem Kälteschlaf erwacht, müssen die sechs Sängerinnen und zwei Sänger zu sich selbst finden. Wie Zwischenwesen aus Zwischenräumen sind auch die chorischen Töne, frei Klangschwebungen und Näherungen an Unbestimmtes wechseln mit detailliert ausgestalteten Passagen. Nicht selbstverständlich, dass «Schnuut und Pumpe», so der Name des aus Laien bestehenden Oktetts, solche Anforderungen meistert und aus den Vorgaben Klangpoesie werden lässt. Immer wieder wird getanzt dazu, etwa im sechsten Bild, dem Transfer der «EU*Distance» durchs Wurmloch: «Die Zeit eilt, weilt und heilt», ein Giebelspruch aus Hitzacker, liefert den Text, ein Technoclub die Vorlage für die Musik. Szenen wie diese wirken manchmal wie Eurythmie zu – trotz vieler Überschreitungen traditioneller Harmonik und Klangmuster bemerkenswert anschlussfähigen – live-elektronischen Klängen. Vielleicht ist das «EU» im Namen des Raumschiffes ja auch ein Verweis auf solche Bezüge.
«Wer das Richtige zu spät tut, tut doch das Falsche. Es ist die grausame Ironie dieser Übergangszeit, dass es so lange weniger schlimm kommt als angekündigt, bis es schlimmer kommt als befürchtet», zitiert das wie die Musik, die Videografik, die Choreografie und die Live-Elektronik von Ziffels gestaltetem Libretto, das auf Texten unter anderem von Sokrates, Proust und E.E. Cummings basiert, den Philosophen Peter Sloterdijk. «Trauermarsch» ist der Titel dieser zentralen Szene des Werks, die Bühne ist menschenleer, auf dem Bildschirm Grafiken von abstrakten Höllenfeuer. Ja, Kultur habe Teil an der Aufgabe, eine Lösung für die globale Krise zu finden, sagte der Komponist im Künstlergespräch vor der Aufführung.