Hexenmeister aus dem All

Berliner Avantgardisten machen Musik in der Parochialkirche

Multimedia für Stimme, Klavier, Stromflöte, Modular Synthese, Tonband, Computer, Live-Elektronik und Licht (1999), gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur, Technik und Frauen, Berlin

Wo sonst der Altar steht, herrscht Leere; heute wird nichts verkündigt. Links ein Musiker, der sich hinter Keyboard und Elektronik verschanzt hat — er scheint die Quelle der elektronischen Sphärenmusik zu sein, die ohrenbetäubend den Kirchenraum durchheult. In seinem Latexkostüm, mit Plastikröhren um die Schultern, sieht er aus wie ein Insekt. Rechts kniet ein anderer; außer zwei Mikrophonen hat er nichts als die Stimme. Er erzeugt die sonoren, elegischen Klagegesänge, die aus Lautsprechern von allen vier Seiten über den Kirchenbänken zusammenschlagen. Aus einer Art blauem Plastikoverall schält sich ein hellblaues Oberteil, das die Bewegungen der Körperoberfläche beim Singen sichtbar werden läßt: deutlich ein viel weicheres, verletzlicheres Geschöpf. Dahinter leuchten die rohen Wände der Parochialkirche in rotem Licht auf. Von Berlins Barockarchitekten Nehring als Zentralraum geplant und 1703 als erste reformierte Kirche Berlins geweiht, war der Bau 1944 ausgebrannt und hatte dann die DDR als Möbellager überstanden. Drei große Konchen mit je fünf hohen Fenstern umgeben das quadratische Mittelschiff, dessen Decke fehlt, seit der brennende Turm hereinstürzte; auch er fehlt bis heute, lediglich seine Basis wird gerade restauriert. Ein von der Geschichte versehrter, suggestiver Raum. Klopfzeichen durchmessen ihn jetzt. Rasterartig überlappende Rhythmen spannen sich durch den Raum.

Woher kommen sie?

Der Sänger hat nun eine Geige in der Hand, auf deren Korpus er mit dem Finger schlägt – Elektronik verstärkt das Geräusch mit Hall und Echo. Dann streicht er mit dem Bogen, doch die Saite ist gelockert und gibt ein denaturiertes Krächzen von sich. Schließlich tremoliert er auf der E-Saite, bis der Ton sich in einer Art Sinuston verliert. Aufmerksam blickt er durch das Kirchenschiff, als nehme er eine Peilung vor. »Ha!« faucht er wenig später ins tragbare Mikro, geht vom Podium herunter und nähert sich den Zuhörern. »Ha!« ist das einzige Material für dieses Stück. Aber wie viele Farben und Schattierungen kann so ein »Ha!« annehmen! Es kann lang sein oder kurz, kann in unterschiedlichen Rhythmen aufeinander folgen, jedenfalls erzeugt es eine intensive Anspannung und wächst sich zu einem richtigen kleinen Musikstück aus. »Auditive Diagnose« haben die beiden Musiker diesen Abend genannt. Sie kommen aus fremden Welten — vielleicht haben beide ein bißchen zu viel Science-fiction gesehen. Jedenfalls sind beide »Akte X«-Fans. Beide glauben, daß da noch ein wenig mehr ist als die sichtbare Welt. Und wenn es nur die schwarzen Löcher in unserer Seele sind. Der eine hat klassisch Komponieren gelernt und ist bei elektronischer Musik gelandet. Der andere ist Autodidakt und hat nur sich selbst, genauer: seine Stimme. Der eine drückt sich über Maschinen aus, der andere über seinen eigenen Körper. Sie treffen aufeinander und versuchen zu kommunizieren. Beiden gemeinsam ist eine Grenzen sprengende Lust auf neue Klänge. Damit hat sich jeder auf seinem Feld einen Namen gemacht – ‚zwei Musiker, jeder für sich typisch für die Berliner Avantgardeszene. Da ist eine Szene jenseits der etablierten »Neuen Musik« entstanden, die Einflüsse auch aus der Popkultur verarbeitet.

Nach zweieinhalb Stunden – Pause eingeschlossen – herrscht hinter den Fenstern Dunkelheit und die Musiker sind weg. Der Sänger ist unter sanften Klängen ausgezogen, einen immer größeren Schatten werfend, der schließlich den ganzen Altarraum schwärzt. Dann hat auch der Keyboarder die letzte Figur in die Tasten gehämmert, am Modular die letzte Einstellung programmiert und ist ebenfalls zwischen den Kirchenbänken verschwunden. Sie lassen uns fasziniert und ein wenig ratlos zurück. Wer war da auf dem Prüfstand, das Publikum oder die Musiker? Auf jeden Fall war es die Begegnung mit einer neuartigen, vitalen Musik.

Bernd Feuchtner | FAZ